Report 12th EU-Criminal Law Workshop, October 18-19, 2019, Bonn: "Is the rule of law falling apart in Europe?“

Tagungsbericht zum 12. EU-Strafrechtstag – „Geht der Rechtsstaat in Europa unter?“

25 November 2019 (updated 2 years, 11 months ago) // Published in printed Issue 3/2019

Under the heading “Is the rule of law falling apart in Europe?“ criminal defense attorneys, mainly from Germany, met for the 12th time in Bonn/Germany to discuss current challenges in the fields of criminal law and criminal procedure in the European Union. The event was organized by the Association of defense lawyers of North-Rhine Westphalia together with defense attorney Dr. Anna Oehmichen, Knierim & Kollegen/Mainz. Numerous legal practitioners as well as judges and legal scholars working in the field of European criminal law met to analyse whether current developments involving the Europeanization of substantive criminal law and criminal procedure still allow constitutional developments. The participants discussed such issues as mutual recognition in criminal matters, improvements to the European Arrest Warrant, implementation of the European Investigation Order, the envisaged e-evidence regulation, and the current challenges of digitalization. The focus up until now seems to have been only on procedural operability and effectiveness instead of on the protection of individual rights. As in previous years, the 2019 conference set cornerstones for guaranteeing defense rights.

Der bereits zum zwölften Mal stattfindende EU-Strafrechtstag lud auch in diesem Jahr Strafverteidiger, Wissenschaftler und Praktiker aus verschiedenen europäischen Staaten ein, zu aktuellen Themen im Bereich des Europäischen Strafrecht zu diskutieren. Die traditionell im Universitätsclub in Bonn abgehaltene Veranstaltung wird von der Strafrechtsverteidigervereinigung NRW e.V. organisiert, seit zwei Jahren in Kooperation mit Rechtsanwältin Dr. Anna Oehmichen, Knierim & Kollegen / Mainz. Im Vordergrund stand in diesem Jahr die Frage, ob der Rechtsstaat in Europa untergehe. Zu entsprechenden Befürchtungen bietet die aktuelle Entwicklung im Bereich der Europäisierung der Strafrechtspflege hinreichend Anlass, wie Dr. Anna Oehmichen in ihrer Einführungsrede am ersten Konferenztag – dem Praktikerseminar – betonte.

Prof. Dr. Matthias Bäcker (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) ging in seinem Eröffnungsvortrag daher eindrücklich auf die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Perspektive im ewig jungen Streit um die Vorratsdatenspeicherung ein. Er begann mit einer Einführung zum früheren und jetzigen rechtlichen Rahmen der Vorratsdatenspeicherung, wobei die zum früheren Recht ergangene Rechtsprechung des BVerfG und EuGH im Mittelpunkt stand. Im Folgenden schilderte Bäcker verschiedene prozessuale Möglichkeiten, die Telekommunikationsunternehmen und -nutzer haben, um die heutigen nationalen Vorgaben durch den EuGH am Unionsrecht messen zu lassen. Dabei rückte er die aktuelle Vorlagefrage des BVerwG (Beschluss v. 25.9.19, Az. 6 C 12.18 und 6 C 13.18) an den EuGH, ob die nationale Vorratsdatenspeicherung mit Unionsrecht vereinbar ist, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Insgesamt zeigten die Ausführungen Bäckers, dass nicht nur Vorlagefragen aus Deutschland den EuGH erreichen, sondern zugleich aus Frankreich, Belgien und Großbritannien. Bäcker vermutete, der EuGH werde seine vormals aufgestellten Vorgaben, die eindeutig „zu weit gingen“, aufgeben. Zudem wies er darauf hin, dass die Kommission eine Bedarfs- und Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben habe und eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene seit 2017 geplant sei. Im Hinblick auf die Rechtskonformität schlug Bäcker vor, die Vorratsdatenspeicherung zu beschränken: erstens auf einen klar definierten lokalen Raum, wobei die aus dem Polizeirecht bekannten „verrufenen Orte“ einen ersten Anhaltspunkt bilden können, zweitens auf eine geringe Dauer („paar Wochen“) und drittens auf nur „schwere Straftaten“.

Zu einem nicht nur rechtlich, sondern zugleich politisch brisanten Thema sprach Avvocato Nicola Canestrini (Revereto, Italien). Er gab einen Überblick über Fälle von Seenotrettungen vor (italienischen) Gerichten und erläuterte anschließend die gesellschaftlichen Hintergründe: Während an Seenotrettungen beteiligte Personen vor einigen Jahren noch als Helden gefeiert wurden, gelten sie heute als „Verbrecher“ bzw. „Meerestaxis“. Canestrini schilderte den – aus den Medien und der Filmbranche bekannten – Iuventa-Fall, der zwar noch in der Ermittlungsphase steckt, aber als „Mutter aller Seenotrettungsverfahren“ gilt, zumal die Staatsanwaltschaft – insofern erstmalig – vorgibt, direkte Zeugen zu haben, die aussagen, dass die Seenotretter mit „Schleppern“ zusammengearbeitet haben. Mit ebenso starker verfassungsrechtlicher Anbindung wie zuvor Bäcker erläuterte Canestrini die völkerrechtlichen und nationalen (italienischen) Grundlagen, die in Seenotrettungsverfahren Bedeutung erlangen. Zu Seenotrettungen, so Canestrini, bestehe – auch in Italien – eine (verfassungs-)rechtliche Pflicht, weshalb er weiterhin darauf hoffe, die Staatsanwaltschaft werde alle einschlägigen Verfahren einstellen.

In seinem Erfahrungsbericht im Zusammenhang mit der Rechtssache EuGH Petruhhin/Latvijas Republikas Generalprokuratura (EuGH, Urt. v. 6.9.16, Az. 6 C-182/15) erläuterte anschließend Rechtsanwalt Dr. Nikolaos Gazeas, LL.M. (Auckland) Fragen der Rechtshilfe für Drittstaaten in der Sonderkonstellation, dass ein deutscher Staatsangehöriger in Spanien aufgrund eines US-amerikanischen Auslieferungsersuchens festgenommen wurde. In diesem Verfahren wurde versucht, aus den §§ 77 IRG, 133, 134 StPO i.V.m. Art. 18, 21 AEUV und Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG eine Rechtsgrundlage für eine Auslieferung der betroffenen Person nach Deutschland zu begründen, da die Voraussetzungen für einen Haftbefehl, der die Grundlage für einen Vorführungsbefehl (§§ 133, 134 StPO) bildet, nicht gegeben waren. Gazeas sprach von einer Gesetzeslücke, die der Gesetzgeber zu schließen habe. Es könne vor dem Hintergrund der EuGH-Entscheidung nicht sein, dass die „Rückholung“ deutscher Staatsangehöriger, die im Ausland straffällig geworden sind, nur unter den Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls möglich sei.

Im Anschluss rief Richter am OLG Karlsruhe Klaus-Michael Böhm zu einer Reform des Europäischen Haftbefehls auf. Aus praktischer Sicht und anhand kürzlich unter seiner Mitwirkung entschiedener Fälle pointierte Böhm die Schwächen der aktuellen rechtlichen Ausgestaltung des Europäischen Haftbefehls. Reformierungsbedürftig seien vor allem das Haftrecht (§ 19 IRG), der Justizaufbau, das Bewilligungsverfahren, die Verteidigung sowie der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl und der zu Freiheitsstrafen. Den Schwerpunkt legte Böhm auf die Einforderung von Mindeststandards für Haftanstalten, Prüfungserfordernissen für die Rechtsstaatlichkeit sowie die Notwendigkeit individueller Grundrechtsprüfung.

Das Praktikerseminar schloss ein Bericht von Bärbel Heinkelmann (DG JUST, EU-Kommission, Brüssel) über die Prioritäten der Kommission zur Stärkung der Verfahrensrechte in Europa ab. Heinkelmann stellte die erlassenen sechs Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte vor und hielt fest, dass drei Richtlinien bereits vollständig in nationales Recht umgesetzt wurden (2010/64/EU; 2012/13/EU; 2013/48/EU). Obschon die Umsetzung der übrigen drei Richtlinien (2016/343/EU; 2016/800/EU; 2016/1919/EU) noch nicht in allen Mitgliedsstaaten erfolgt ist, zeigte sich Heinkelmann optimistisch, zumal in den letzten 10 Jahren auf europäischer Ebene viel für die Stärkung der Beschuldigtenrechte getan worden sei. Es müsse sicher noch – auch in weiteren EU-Strafrechtstagen – diskutieren werden, inwieweit die Richtlinien und ihre nationalstaatlichen Umsetzungen die Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit im Einzelnen einlösen.

Am zweiten Konferenztag – dem Samstagsplenum – stellten die Veranstalter die Rechtsstaatlichkeitsfrage in den Mittelpunkt. Dr. Hannes Krämer (Juristischer Dienst, EU-Kommission, Brüssel) führte aus Sicht der EU-Kommission in die Debatte ein, fragend, was die EU tun könne, um die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten zu sichern. Krämer referierte über das – bereits bestehende – politische Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV sowie die Voraussetzungen der jeweiligen Absätze und deren Verhältnis zueinander. Als Beispielsfall nannte er das sog. „Art. 7-Verfahren“ der Kommission gegen Polen. Anschließend wies Krämer auf weitere zentrale (z.B. das Vertragsverletzungsverfahren) und dezentrale (z.B. die Anwendung von unmittelbar rechtsstaatskonkretisierenden oder -sichernden Bestimmungen des EU-Rechts) Mechanismen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten hin, um schließlich „alternative Modelle“ und die Fortentwicklung der bestehenden Sicherungsmechanismen zu diskutieren.

Vor diesem Hintergrund boten die anschließenden Länderberichte zur Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, Rumänien und Polen von Prof. Karoly Bard (Central European University, Budapest/Wien), Rechtsanwältin Roxana Staniloaie (Bukarest), Dr. Maciej Taborowski (Commissioner for Human Rights, Warschau) reichlich Zündstoff. Bard erläuterte in einem historischen Rückblick die zahlreichen, durch die „neue Regierung“ in Ungarn veranlassten Verfassungsänderungen und beurteilte die Rechtsstaatlichkeit anhand des aktuellen ungarischen „Richterwahlsystems“. Staniloaie stellte ihren Ausführungen voran, dass in Rumänien die formellen Voraussetzungen für faire Verfahren an sich gegeben, jedoch in der Praxis Urteile und Beschlüsse nicht nachzuvollziehen seien. Sie prangerte die sog. „Dringlichkeitsgesetzgebung“ der Regierung an, die zur „Gewohnheit“ verkommen sei, weshalb man sich in Rumänien auf neue Rechtsvorschriften „über Nacht“ einzustellen habe. In seinem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in Polen legte Taborowski das Augenmerk auf aktuell ganze 14 Vorlagefragen, die dem EuGH und 7 („oder 8“) Verfahren, die dem EGMR vorliegen. Eingehender diskutierte Taborowski die Senkung der Altersgrenze für Richter und das „Richterwahlsystem“ in Polen anhand der dem EuGH vorliegenden Frage, ob die Richter des Obersten Gerichts Polens als unabhängig betrachtet werden können. Sollte der EuGH die Frage verneinen, müssten, so Taborowski sämtliche von diesen Richtern gefällte Urteile und Beschlüsse nichtig sein. Die Rechtsstaatlichkeit in Polen könne nur der EuGH sichern. Dies erfordere aber, dass auch das Verfassungsgericht ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV sei.

Diese kritische Diskussion der Rechtsstaatlichkeit in der Praxis ergänzte Prof. Dr. Liane Wörner, LL.M. [UW-Mad.], (Universität Konstanz) um eine wissenschaftstheoretisch fundierte Grundanalyse des zentralen Europäisierungsmittels der Strafrechtspflege: der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht. Der bisher vorgebrachten Kritik hielt Wörner entgegen, dass die gegenseitige Anerkennung sogar entscheidender Motor der Rechtsstaatlichkeit in der EU sei. Zwar beruhe die Übertragung des zivilrechtlichen Konzepts der gegenseitigen Anerkennung in das Strafrecht auf einem entscheidenden Übertragungsfehler, der die grundlegenden Unterschiede zwischen Zivilrecht und Strafrecht insbesondere in Gestalt der Stellung des Beschuldigten nicht beachte. Allerdings habe sich dieser gerade nicht als Automatismus und Harmonisierung auf allen Wegen ausgewirkt, sondern zu einer ständigen Überprüfung geteilter Werte geführt. Allerdings, so Wörner, bedürfe es zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit einer Verlagerung strafrechtlicher Kompetenzen und der Schaffung eines supranationalen Strafverfahrensrechts, zumal andere Maßnahmen unzureichend seien. Dass der EuGH jener Entwicklung nicht abgeneigt sei, zeige auch eine seiner aktuellen Entscheidungen (EuGH, Urt. v. 15.10.2019, Rs. C-128/18 – Dorobantu), die schwerwiegende Mängel an den Haftbedingungen als Hindernis für die Übergabe nach einer Inhaftierung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zum Gegenstand hatte.

Dr. Stefan Schumann (Assist.-Prof. an der Universität Linz und Rechtsanwalt in München) stellte Überlegungen zur Harmonisierung von Straftaten mit Bezug zu künstlicher Intelligenz an. Schumann erläuterte zunächst die technischen Grundlagen und wies darauf hin, dass das europäische Strafrecht eine Anknüpfungstatsache für künstliche Intelligenz darstelle. Er thematisierte die im aktuellen materiellen Strafrecht bestehenden Zurechnungs-, Sorgfaltsmaßstabs- und Vorhersehbarkeitsprobleme und stellte eigene Lösungsmöglichkeiten dar. Zur zentralen Frage der Verantwortungsdiffusion zog er eine Parallele zum Verbandssanktionenrecht in Österreich.

Selbstverständlich lag gerade am 19. Oktober ein Blick auf den Brexit nahe. Niemand war für dessen kritische Analyse besser geeignet als Ministerialrat Dr. Ralf Riegel (BMJV, Berlin). Er eruierte, welche Folgen ein möglicher Brexit für die strafrechtliche Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich insbesondere in der Strafverfahrenspraxis aus deutscher Sicht nach sich ziehen würde. Hierzu differenzierte Riegel zwischen unterschiedlichen Phasen: (1) „vor dem Brexit“, (2) die „Zwischen- bzw. Übergangsphase“ mit Austrittsumsetzungsfragen nach dem endgültigen „Brexit“-Beschluss, (3) „nach dem Brexit“ selbst, (4) einer „Zwischen- bzw. Übergangsphase“ zum Verfahrensabschluss und (5) einer zukunftsgerichteten Phase zu „weiteren Überlegungen“ (nach dem Brexit).

Mit einer Betonung auf den aktuellsten Entwicklungen in der Strafrechtspflege der EU und der kritischen Diskussion der aktuellen Rechtsprechung des EuGH einschließlich dort gerade anhängiger Verfahren schlug schließlich Jun.-Prof. Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn) (Universität Saarbrücken) die Brücke zum 13. EU-Strafrechtstag, der am 23. und 24. Oktober 2020 in Bonn stattfinden wird. Spannend dürfte dann auch sein, ob sich die zwar kritischen, insgesamt aber grundsätzlich positiven Aussagen zur Rechtsstaatlichkeit halten lassen werden. Die kurz nach der Tagung ergangene Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Gavanozov (Urteil v. 24.10.2018 – Az. C-324/17) lässt doch, worauf auch Brodowski vorausblickend hinwies, einigen Diskussionsbedarf aufscheinen.

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