Können die Regelungen über die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung kurzerhand aufgehoben werden?
Abstract
The European Union performs numerous tasks. In order to carry out these tasks, the Union relies on money that is provided for by the Member States, including customs duties. This article initially describes the principles of the legal framework within which Member States
- levy customs duties;
- investigate criminal offences committed in this context;
- cooperate with one another.
In particular, the article stresses that the levying of customs duties, on the one hand, and criminal prosecution, on the other, serve different purposes, for which the European Union and the national legislators have established separate legal rules. As a consequence, different regulations for administrative procedure, on the one hand, and criminal procedure, on the other, must be simultaneously observed.
The article subsequently deals with Art. 12 of Regulation (EC) No 515/97 as amended by Regulation (EU) 2015/1525 of 9 September 2015. This new provision seeks to establish that information collected as part of administrative procedure is admissible as evidence in criminal proceedings. The new provision does away with the previously described principle that administrative and criminal proceedings are strictly separate. The author views the amendment critically and explains his reasoning in this regard.
I. Gegenseitige Abhängigkeiten von Verwaltungs- und Strafverfahren im Zollbereich
1. Grundzüge des Zollverwaltungsverfahrens
Bei der Erhebung der Zölle wird üblicherweise wie folgt verfahren:
Der Einführer („Wirtschaftsbeteiligter“) stellt bei einer EU-Zollverwaltung einen Antrag, eine Ware in den zollrechtlich freien Verkehr der EU zu überführen.
Die Zollverwaltung prüft den Antrag sowie die beigefügten Unterlagen, setzt die Zölle fest und kassiert sodann das Geld.
Die Zollverwaltung gibt die Ware frei. Danach darf der Einführer nach seinem Ermessen über die Ware frei verfügen.
Anschließend führt die Zollverwaltung die gezahlten Zölle, gekürzt um 25% für die entstandenen Verwaltungsaufwendungen, an die Europäische Kommission ab.
Die Zollverwaltungen führen diese Maßnahmen im Rahmen eines administrativen Verwaltungsverfahrens durch. Rechtsgrundlage sind die Zollvorschriften der Europäischen Union und ergänzende nationale Gesetze, zum Beispiel die Abgabenordnung (AO) in der Bundesrepublik Deutschland. In der Praxis unterliegt dieses Verfahren verschiedenen Abweichungen, zum Beispiel:
der Anforderung ergänzender Unterlagen bei dem Wirtschaftsbeteiligten,
der Durchführung von Betriebsprüfungen,
der Durchführung von administrativen Zwangsmaßnahmen, wenn der Wirtschaftsbeteiligte, der die Zölle schuldet, nicht zahlt.
Das Verwaltungsverfahren folgt grundsätzlich folgendem Schema:
Zollantrag Prüfung Festsetzung Zahlung (ggf. Vollstreckung)
Dieses Schema läuft jedoch nicht immer reibungslos ab, da einige Wirtschaftsbeteiligte vermeiden wollen, die Zölle in der zutreffenden Höhe zu zahlen. Deshalb machen sie beispielsweise in ihrem Zollantrag unzutreffende Angaben über die Beschaffenheit der Ware, den Wert der Ware oder den Warenursprung. In der Folge setzt die Zollverwaltung die Zölle nicht in der gesetzlichen Höhe fest.
Die Zollverwaltung, welche die Zollabfertigung durchgeführt hat, erhält bisweilen erst nach der Abfertigung konkrete Hinweise darauf, dass die Wirtschaftsbeteiligten (ggf. unter Mitwirkung von Firmen in Drittstaaten) unzutreffende Angaben gemacht haben. In der Folge muss sie die Angaben der Wirtschaftsbeteiligten widerlegen und zum Beispiel beweisen, wo und wie eine Ware in einem Drittland hergestellt worden ist. Dieser Nachweis ist oft sehr schwer zu führen, zumal staatliche Stellen in den Drittländern bisweilen nicht daran interessiert sind, diese administrativen Ermittlungen zu unterstützen, weil dies ihren eigenen fiskalischen und wirtschaftlichen Interessen widerspricht.
Sobald die Zollverwaltung mit der gebotenen Belastbarkeit nachweisen kann, dass die Angaben der Wirtschaftsbeteiligten unzutreffend waren und die Zölle nicht ordnungsgemäß festgesetzt worden sind, muss sie die Zölle nacherheben.
2. Strafverfahren wegen unzutreffender Angaben im Verwaltungsverfahren
Unzutreffende Angaben der Wirtschaftsbeteiligten bei der Zollabfertigung können einen Straftatbestand darstellen. In der Bundesrepublik Deutschland ist dies die Straftat der Steuerhinterziehung nach § 370 Abgabenordnung (AO). Diese Strafnorm schützt als Rechtsgut das zutreffende Steueraufkommen. Hierzu gehören auch die Zölle. Straftäter ist die natürliche Person, die den Zollantrag stellt oder ggf. (über eine Spedition) stellen lässt. Strafbare Handlung ist die pflichtwidrige Täuschung der Zollbeamten über steuerlich erhebliche Tatsachen, zum Beispiel über den Ursprung oder den Wert einer Ware.1 Der Erfolg der Straftat tritt ein, wenn die Zölle nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden (§ 370 Abs. 4 AO). Diese Straftat wird auch in Form organisierter Kriminalität begangen.
Der Straftatbestand „Steuerhinterziehung“ kann also nur dann vorliegen, wenn Zölle verkürzt wurden, weil die Beteiligten ihre Pflichten, die ihnen nach dem Verwaltungsrecht obliegen, verletzt haben.
II. Verhältnis zwischen Verwaltungsverfahren und Strafverfahren
Das Verwaltungsverfahren und das Strafverfahren betreffen zwar denselben Lebenssachverhalt, unterscheiden sich jedoch z.B. in den Punkten
Zweckbestimmung,
Rechtsgrundlagen,
Datenschutzregelungen (bereits innerhalb des Unionsrechts),
ggf. Behördenzuständigkeit (je nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaates).
Verwaltungsverfahren und Strafverfahren sind dennoch untrennbar miteinander verwoben. Für einen effektiven und sachgerechten Schutz der finanziellen Interessen der EU ist es deshalb erforderlich, dass sowohl die Verwaltungsbehörden einerseits als auch die für die Strafverfolgung zuständigen Behörden andererseits so eng, schnell und umfassend wie möglich zusammenarbeiten.
Verwaltungsverfahren und Strafverfahren werden deshalb zeitgleich und parallel im Rahmen der für diese Verfahren jeweils anwendbaren verwaltungsrechtlichen und strafprozessualen Rechtsvorschriften geführt. Das Verwaltungsverfahren dient fiskalischen Zwecken, nicht der Strafverfolgung; das Strafverfahren dient der Strafverfolgung, nicht aber fiskalischen Zwecken:
Zollantrag Prüfung Festsetzung Zahlung (ggf. fiskalische Vollstreckung)
Einleitung Ermittlung Anklage Urteil Strafvollstreckung
Dennoch müssen die Verwaltungsbehörden bei ihren administrativen Ermittlungen strafrechtliche Aspekte berücksichtigen. Umgekehrt müssen die für strafrechtliche Ermittlungen zuständigen Behörden die administrativen Aspekte berücksichtigen. Dabei sollte beachtet werden, dass die Straftäter von einer nicht optimalen Abstimmung zwischen den Verwaltungsbehörden und den Strafverfolgungsbehörden profitieren können. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn Aspekte eines Sachverhaltes ermittelt werden, auf die es verwaltungsrechtlich nicht ankommt. Oder wenn zollrechtlich eine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, weil den Beschuldigten kein Vorsatz nachgewiesen werden konnte.2
Insbesondere sollte auch berücksichtigt werden, dass der wirtschaftliche Vorteil der Straftat im Wesentlichen darin besteht, dass die Zollbehörden die Zölle nicht erheben konnten. Wenn dieser Betrag feststeht, müssen die Zollverwaltungen die Zölle im Verwaltungsverfahren (!) fiskalisch beitreiben. Für diesen Betrag kann es entbehrlich sein, auf strafrechtliche Maßnahmen der Vermögensabschöpfung zurückzugreifen.3 In jedem Fall sollte aber versucht werden, den Straftätern die Vorteile, die sie aus ihren Handlungen erlangt haben, sowohl mit verwaltungsrechtlichen Maßnahmen als auch mit strafrechtlichen Maßnahmen zu nehmen.
III. Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten
Die Parallelität von Verwaltungsverfahren und Strafverfahren, welche in der Bundesrepublik Deutschland in § 393 AO geregelt ist, ist nicht nur bei einzelstaatlichen Verwaltungs- und Strafverfahren, sondern auch bei der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten bzw. der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zu beachten. Die Anwendung der in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen richtet sich auch hier maßgebend nach dem Zweck des Informationsaustauschs.
1. Zusammenarbeit in Verwaltungsverfahren
Die Verordnung (EG) Nr. 515/97 des Rates vom 13. März 1997 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten und die Zusammenarbeit dieser Behörden mit der Kommission im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und der Agrarregelung enthält detaillierte Vorschriften über die Zusammenarbeit bei der Ermittlung von Sachverhalten für die Zwecke der Verwaltungsverfahren. Die Verordnung regelt zum Beispiel, dass ein ersuchter Mitgliedstaat eingehende Amtshilfeersuchen bearbeitet wie ein Verwaltungsverfahren in eigener Sache. Somit muss ein Mitgliedstaat administrative Zwangsmaßnahmen anwenden, wenn nur so Informationen erlangt werden können, die ein anderer Mitgliedstaat benötigt, um die Zollvorschriften der Europäischen Union zutreffend anzuwenden.4
Die Verordnung enthält keine Regelungen zur Zusammenarbeit zum Zwecke der Strafverfolgung. Dies ergibt sich aus folgenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 515/97:
Art 51 stellt klar, dass die strafprozessualen Vorschriften der Mitgliedstaaten und die Vorschriften über die Rechtshilfe in Strafsachen unberührt bleiben.
Art. 3 legt fest, dass ein Informationsaustausch für Verwaltungszwecke grundsätzlich auch dann durchgeführt werden muss, wenn der Informationsaustausch Elemente enthält, die nur mit Genehmigung oder auf Antrag von Justizbehörden durchgeführt werden können. Dies umfasst die Fälle, in denen die Justizbehörden strafrechtliche Ermittlungen führen.
Die Justizbehörden müssen aber zustimmen, wenn Auskünfte aus Strafverfahren für Zwecke der VO (EG) Nr. 515/97, also für Verwaltungszwecke, verwendet werden sollen.Artikel 45 Abs. 3 (in der durch VO (EG) 766/2008 geänderten Fassung) erlaubt, dass Informationen, die für Verwaltungszwecke erbeten wurden und die für Verwaltungszwecke erteilt worden sind, in einem Strafverfahren zu dem selben Lebenssachverhalt verwendet werden dürfen, sofern dieses Strafverfahren später (!) eingeleitet wurde („subsequently initiated“).5 In diesem Zusammenhang ist unklar, auf welchen Zeitpunkt sich das Merkmal „später eingeleitet“ bezieht. Ohne Zweifel ist damit ein Zeitpunkt gemeint, der nach der Stellung des administrativen Amtshilfeersuchens liegt. Denn ansonsten hätte der ersuchende EU-Mitgliedstaat ein Rechtshilfeersuchen um Informationen in einer strafrechtlichen Angelegenheit stellen müssen.6
2. Zusammenarbeit in Strafverfahren
Die für Strafverfolgung zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten arbeiten im Wesentlichen auf der Grundlage des EU-Rechtshilfeübereinkommens von 20007 zum Zwecke der Strafverfolgung zusammen. Alternativ steht den für die Strafverfolgung zuständigen Verwaltungs- und Justizbehörden aber auch eine weitere, gleichrangige Rechtsgrundlage zur Zusammenarbeit zur Verfügung, nämlich das Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen.8 Dieses auch unter dem Kürzel „Neapel II“ bekannte Übereinkommen hat das so genannte „Neapel-I-Übereinkommen“ aus dem Jahre 1967, das die sechs EG-Gründerstaaten abgeschlossen hatten, fortentwickelt. Das „Neapel-II-Übereinkommen“ ist in der Praxis der Justizbehörden wenig bekannt oder seine Vorteile werden bisweilen nicht erkannt.
Das Übereinkommen hat das Ziel, die VO (EG) Nr. 515/97, die nur Vorschriften über die Zusammenarbeit der Zollverwaltungen im administrativen Verfahren enthält, mit Rechtsgrundlagen über die Zusammenarbeit zum Zwecke der Strafverfolgung zu ergänzen.9
Das Neapel-II-Übereinkommen enthält im Wesentlichen folgende Regelungen:
Informationsaustausch zum Zwecke der Strafverfolgung.
Festlegung, dass die übermittelten Informationen und Unterlagen als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden. Der Beweiswert richtet sich nach dem Recht des ersuchenden Staates.
Wahl des Mitgliedstaates, ob er ein ausgehendes Ersuchen auf Neapel II oder auf (andere) Vorschriften über die Rechtshilfe in Strafsachen stützt. Falls die Justizbehörden die Federführung bei den Ermittlungen haben, können sie die Zollbehörden beauftragen, Ersuchen auf der Grundlage des Neapel-II-Übereinkommens zu stellen.
Verpflichtung, dass die ersuchte Behörde bei der Vornahme von Ermittlungen so tätig wird, als ob sie in Erfüllung eigener Aufgaben oder auf Ersuchen einer anderen Behörde ihres Mitgliedstaats handeln würde. Hierzu gehört auch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen der Strafverfolgung, ggf. nach Beteiligung der Justizbehörden.
3. Abstimmung der Zusammenarbeit in Verwaltungs- und Strafverfahren
Wenn die EU-Zollverwaltungen ihr Ersuchen sowohl auf die VO (EG) Nr. 515/97 als auch auf das Neapel-II-Übereinkommen stützen, können sie untereinander in einem (!) Vorgang sowohl zum Zwecke der Durchführung von Verwaltungsverfahren als auch der Strafverfolgung zusammenzuarbeiten. Damit können parallele Geschäftswege im Bereich der Zoll- und Justizverwaltungen vermieden werden, einschließlich des damit verbundenen Abstimmungsaufwandes im ersuchten und im ersuchenden EU-Mitgliedstaat. Die ersuchte Behörde weiß damit genau, für welchen Zweck die ersuchende Behörde die Informationen verwenden will. Sie kann die erbetenen Feststellungen dann im Rahmen von administrativen und strafprozessualen Ermittlungen treffen und die ersuchende Behörde in dem für den jeweiligen Verwendungszweck geltenden rechtlichen Rahmen unterrichten.
IV. Künftige gesetzliche Vermischung der Zweckbestimmung
Hinsichtlich der zukünftigen Rechtsanwendung ist jedoch eine Vermischung zwischen (verwaltungsrechtlichem) Amtshilfe- und (strafjustiziellem) Rechtshilfeverfahren festzustellen, die im Widerspruch zu den zuvor genannten Grundsätzen steht. Im Folgenden wird zunächst die Rechtsgrundlage dieser Vermischung dargestellt und sodann einer Bewertung unterzogen.
1. Inhalt der künftigen Änderung der VO (EG) Nr. 515/97
Die VO (EU) Nr. 2015/152510 wird ab dem 1. September 2016 gelten. Sie ändert Artikel 12 VO (EG) Nr. 515/97 in folgender Weise:
„Unbeschadet des Artikels 51 können Informationen, darunter Unterlagen, beglaubigte Abschriften, Bescheinigungen, alle Verwaltungsakte oder Entscheidungen der Verwaltungsbehörden, Berichte sowie alle Auskünfte, die von Bediensteten der ersuchten Behörde eingeholt und der ersuchenden Behörde im Wege der Amtshilfe gemäß den Artikeln 4 bis 11 übermittelt werden, in der gleichen Weise zulässige Beweismittel darstellen, als wären sie in dem Mitgliedstaat, in dem das Verfahren stattfindet, erhoben worden:
in Verwaltungsverfahren in dem Mitgliedstaat der ersuchenden Behörde, einschließlich anschließender Widerspruchsverfahren;
in Gerichtsverfahren in dem Mitgliedstaat der ersuchenden Behörde, sofern die ersuchte Behörde bei der Übermittlung der Informationen nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt hat.“
Der zweite Erwägungsrund der VO (EU) Nr. 2015/1525 erläutert die Änderung in Art. 12 lit. b) wie folgt:
„Um die verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren zur Behandlung von Unregelmäßigkeiten weiter zu verbessern, ist dafür Sorge zu tragen, dass im Wege der gegenseitigen Amtshilfe eingeholte Beweismittel in den Verfahren der Verwaltungs- und Justizbehörden des Mitgliedstaats der ersuchenden Behörde als zulässige Beweismittel angesehen werden können.“
Die VO (EU) Nr. 2015/1525 hat damit den Vorschlag der Kommission weitgehend übernommen.
Die Kommission hatte ihren Vorschlag11 für Buchstabe b) wie folgt begründet:
„Die vorgeschlagene Änderung von Artikel 12 stellt darauf ab, die Rechtsunsicherheit, die zurzeit in Bezug auf die etwaige Verwendung von im Rahmen der gegenseitigen Amtshilfe eingeholten Informationen als Beweismittel in nationalen Strafverfahren herrscht, zu beseitigen.“
Der Europäische Rechnungshof hatte den Vorschlag der Kommission unterstützt und in seiner Stellungnahme 1/201412 ausgeführt:
„Zu diesem Zweck werden drei weitere Punkte der bestehenden Verordnung präzisiert:
i)....
ii)....
iii)....die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit von im Rahmen der gegenseitigen Amtshilfe eingeholten Informationen als Beweismittel in nationalen Strafverfahren wird beseitigt.
...........
Außerdem vertritt der Hof die Auffassung, dass die Präzisierung in Artikel 12, wonach im Rahmen der gegenseitigen Amtshilfe eingeholte Informationen zulässige Beweismittel in Strafverfahren der Mitgliedstaaten darstellen können, sinnvoll ist. Aus diesen Gründen begrüßt der Hof den Vorschlag der Kommission.“
Konsequenz der Regelungsänderung ist, dass durch Artikel 12 VO (EU) Nr. 515/97 n.F. ab dem 1. September 2016 folgendes Verfahren zulässig ist:
Der ersuchende Mitgliedstaat führt administrative und steuerstrafrechtliche Ermittlungen. Er benötigt Auskünfte aus einem anderen Mitgliedstaat für Zwecke der Strafverfolgung.
Er bittet einen anderen Mitgliedstaat nur um die Durchführung von administrativen (!) Ermittlungen auf der Grundlage der VO (EG) Nr. 515/97.
Der ersuchte Mitgliedstaat trifft die erbetenen administrativen Feststellungen, ggf. unter Verwendung von administrativen Zwangsmaßnahmen.
Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt die erbetenen Auskünfte auf der Grundlage der VO (EG) Nr. 515/97.
Der ersuchte Mitgliedstaat verwendet die erteilten Auskünfte für das Strafverfahren.
Das neue Verfahren kann schematisch folgendermaßen skizziert werden:
Die neue Regelung streicht damit de facto die Bestimmung des Artikels 45 Abs. 3 VO (EG) 515/97, dass für Verwaltungszwecke erteilte Auskünfte nur für „später eingeleitete“ (strafrechtliche) Ermittlungsverfahren verwendet werden dürfen. Denn eine Verwendung der Erkenntnisse in der dargestellten Art wird künftig für alle strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zulässig sein, auch wenn sie vor der Stellung des Ersuchens nach der VO (EG) Nr. 515/97 eingeleitet worden sind.
2. Bewertung
In der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten wird mit der Änderung der VO (EG) Nr. 515/97 ab dem 1. September 2016 die Trennung von Verwaltungs- und Strafverfahren zumindest in Teilen aufgehoben. Die strafrechtlichen Aspekte der Ermittlungen werden dem Verwaltungsverfahren zugeschlagen. Diese Änderung ist jedoch aus folgenden Gründen kritisch zu würdigen.
Zunächst ist zweifelhaft, ob Artikel 12 VO (EG) Nr. 515/97 in der durch die VO (EU) 2015/1525 geänderten Fassung nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Zweifel sind vor allem im Hinblick auf den durch Art. 6 EMRK garantierten fair trial-Grundsatz im Strafverfahren angebracht.
Ist ein Strafverfahren „fair“, wenn ein EU-Mitgliedstaat
ein Strafverfahren wegen der Hinterziehung von Zöllen führt,
einen anderen EU-Mitgliedstaat nicht um Unterstützung in einer strafrechtlichen Angelegenheit, sondern um Unterstützung in dem Verwaltungsverfahren in gleicher Sache ersucht,
der ersuchte Mitgliedstaat die erforderlichen Feststellungen unter Anwendung der dortigen verwaltungsrechtlichen Vorschriften trifft (und dabei unter Umständen Personen zu Aussagen zwingt, zu denen diese Person im ersuchenden EU-Mitgliedstaat ein Aussageverweigerungsrecht aus strafverfahrensrechtlichen Gründen hätte13),
der ersuchte Mitgliedstaat die erbetenen Auskünfte nach verwaltungsrechtlichen Vorschriften erteilt und
der ersuchende Mitgliedstaat sodann die erteilten Auskünfte für Zwecke der Strafverfolgung verwendet?
Zweitens kann die von den EU-Institutionen vorgebrachte ratio nicht nachvollzogen werden.
Die Europäische Kommission hat in ihrer Begründung für die neue Bestimmung mitgeteilt, es herrsche zur Zeit eine Rechtsunsicherheit in Bezug auf die etwaige Verwendung von im Rahmen der gegenseitigen Amtshilfe eingeholten Informationen als Beweismittel in nationalen Strafverfahren. Dagegen ist einzuwenden, dass die bestehenden Rechtsvorschriften eindeutig sind: wenn Auskünfte zum Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden sollen, muss ein Rechtshilfeersuchen nach den geltenden Vorschriften gestellt werden, z.B. dem EU-Rechtshilfeübereinkommen von 2000 oder dem Neapel-II-Übereinkommen. Dass einzelne Stellen möglicherweise nicht mit der gebotenen Genauigkeit zwischen den unterschiedlichen Zweckbestimmungen unterscheiden, sollte nicht die Annahme einer „Rechtsunsicherheit“ und damit eine Änderung qua neuem Unionsrecht rechtfertigen.
Mit der Neuregelung wird drittens mit einem Federstrich auf den Rechtshilfeverkehr in Strafsachen für die Strafverfolgung von Zollvergehen verzichtet. Fraglich ist, ob dies so ohne weiteres möglich und sinnvoll ist. Denn eine konsequente Anwendung des neuen Artikels 12 VO (EG) Nr. 515/97 kann Rechtshilfeersuchen im Zollbereich schlichtweg entbehrlich machen. Die verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren zur Behandlung von Unregelmäßigkeiten sind insofern weiter “verbessert”, als keine Rechtshilfevorschriften mehr anzuwenden sind. Es gibt dann nur noch die Amtshilfe nach der VO (EG) Nr. 515/97 für Zwecke der Verwaltungsverfahren und Zwecke der Strafverfolgung.
Viertens ist folgendes zu bedenken: Aus welchem Grund sollte ein Mitgliedstaat ein Ersuchen an andere Mitgliedstaaten um Informationen zur Förderung strafrechtlicher Ermittlungen auf administrative Rechtsvorschriften stützen, wenn doch im Zeitpunkt des Ersuchens feststeht, dass die erbetenen Informationen für Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden sollen?
Eine solche Verfahrensweise kann meines Erachtens nur den Zweck haben, die Information, dass die Auskünfte zum Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden sollen, zurückzuhalten und den ersuchten EU-Mitgliedstaat über diese tatsächliche Zweckbestimmung im Unklaren zu lassen. Ein solches Verhalten ist jedoch wenig geeignet, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten zu vertiefen.
Es bleibt ferner abzuwarten, ob die Strafgerichte in den Mitgliedstaaten Auskünfte und Unterlagen anderer EU-Mitgliedstaaten als zulässige Beweismittel in Strafverfahren anerkennen, wenn diese Beweise auf dem Wege der administrativen Zusammenarbeit erlangt wurden. Strafverfahren könnten “platzen”, wenn die zuständigen Strafgerichte Zweifel haben, dass die Beweismittel strafprozessual rechtmäßig erlangt wurden. In der Folge könnte eine Festsetzungsverjährung in dem fiskalischen Verwaltungsverfahren eingetreten sein.14
Durch die Neuregelung entstehen auch vielfältige Probleme zum Datenschutz. Welche EU-Datenschutzregelung gilt im Zeitpunkt der Datenerhebung für Zwecke der Strafverfolgung durch die ersuchte Verwaltungsbehörde (die diese tatsächliche Zweckbestimmung nicht kennt)? Ab wann gelten die EU-Datenschutzvorschriften für Strafverfahren?
Schließlich erscheint der neue Artikel 12 VO (EG) Nr. 515/97 im Detail unschlüssig. Insbesondere ist sein Verhältnis zu anderen Vorschriften der VO nicht abgestimmt. Nach Artikel 51 berührt diese Verordnung weder die Anwendung der strafprozessrechtlichen Vorschriften in den Mitgliedstaaten noch die Vorschriften über die Rechtshilfe in Strafsachen, einschließlich der Vorschriften über das Ermittlungsgeheimnis. Andererseits greift der neue Artikel massiv in das Verfahren der Rechtshilfe ein, indem er zulässt, dass die im Verwaltungsverfahren erteilten Informationen als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden dürfen. Somit regelt Art. 12 im Ergebnis die Rechtshilfe, die die VO gem. Art. 51 aber ausdrücklich nicht regeln will.
V. Wie geht es weiter?
Es mag Mitgliedstaaten geben, denen die Anwendung der neuen Regelung unüberwindbare rechtliche Probleme bereitet. Diese Mitgliedstaaten können den Zusatz in Artikel 12 Buchstabe b) VO (EG) Nr. 515/97 anwenden, wonach die künftige Regelung in Bezug auf die (strafrechtlichen Gerichtsverfahren) nur dann Anwendung findet,
„...sofern die ersuchte Behörde bei der Übermittlung der Informationen nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt hat.“
Jeder Mitgliedstaat, der Informationen übermittelt, hat demzufolge das Recht, grundsätzlich oder im Einzelfall zu optieren, ob er die neue Regelung anwendet.15 Jeder Mitgliedstaat kann also das Verbot aussprechen, die Informationen für Zweck der Strafverfolgung zu verwenden.
Es bleibt somit abzuwarten, wie die neue Regelung in der Praxis ab dem 1. September 2016 angewendet wird. Möglicherweise wird ein Mosaik von Erklärungen der EU-Mitgliedstaaten entstehen, die die anderen Mitgliedstaaten bei der Verwendung der erteilten Auskünfte (Beweise) beachten müssen. Dann wird sich auch herausstellen, ob die neue Regelung tatsächlich das propagierte Ziel erreicht, bestehende Rechtsunsicherheiten zu beseitigen und damit die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden zu verbessern.
Dieser pragmatische Lösungsweg kann jedoch nur ein vordergründiger sein. Insbesondere für den Fall, dass die Kommission Artikel 12 Buchstabe b) VO (EG) Nr. 515/97 als Vorbild für künftige EU-Regelungen in anderen Verwaltungsbereichen heranziehen sollte, dürfte es erforderlich sein, die oben skizzierten grundsätzlichen Fragestellungen zu diskutieren.
§ 370 AO umfasst auch die Nichtabgabe vom Steuererklärungen (Unterlassen).↩
Die zollrechtliche Festsetzungsverjährungsfrist beträgt 3 Jahre, in Deutschland bei vorsätzlich begangenen Straftaten 10 Jahre, § 169 Abs. 2 Satz 2 AO.↩
Die Straftäter haben ggf. noch einen wirtschaftlichen Vorteil in der Form erlangt, dass sie Konkurrenten aus dem Markt gedrängt haben. Dieser Vorteil kann ihnen nicht mit zollrechtlichen Zwangsmaßnahmen genommen werden.↩
OLAF koordiniert die administrativen Ermittlungen der Mitgliedstaaten und/oder die Zusammenarbeit mit Drittländern. Diese Arbeit ist für einen erfolgreichen Schutz der finanziellen Interessen der EU unverzichtbar. Weiterführend zu OLAF siehe Brüner/Spitzer, in: Sieber/Heintschel-Heinegg/Satzger, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 43.↩
Die deutsche Sprachfassung wurde berichtigt, ABl. L 121 vom 14.5.2015, Seite 28.↩
Der Vollständigkeit halber mache ich aufmerksam: Wenn ein Abgabenschuldner nicht zahlt, unterstützen sich die Mitgliedstaaten gegenseitig mit administrativen Vollstreckungsmaßnahmen (Richtlinie 2010/24/EU). Der ersuchte EU-Mitgliedstaat überweist den so beigetriebenen Geldbetrag auf das Konto des ersuchenden EU-Mitgliedstaates. Diese Verwaltungsmaßnahmen werden unabhängig von etwaigen Rechtshilfemaßnahmen der Justizbehörden im Bereich der Vollstreckung angewendet.↩
Übereinkommen - gemäß Artikel 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt -über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl C 197 vom 12. Juli 2000.↩
ABl. Nr. C 024 vom 23.01.1998.↩
Siehe Präambel und Art. 1 des Übereinkommens.↩
Verordnung (EU) 2015/1525 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 515/97 des Rates über die gegenseitige Amtshilfe zwischen Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten und die Zusammenarbeit dieser Behörden mit der Kommission im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und der Agrarregelung, ABl. L 243 vom 18.9.2015, S. 1–12.↩
Vorschlag vom 25.11.2013 COM(2013) 796 final 2013/0410 (COD), Bundesrats-Drucksache 778/13.↩
ABl. Nr. C 94 vom 31.3.2014. Der Europäische Rechnungshof geht in Tz. 1 seiner Stellungnahme unzutreffenderweise davon aus, dass Zweck der VO (EG) Nr. 515/97 auch die „Verfolgung“ von Verstößen gegen die Zoll- und Agrarvorschriften ist.↩
Ferner stellt sich die Frage, ob der Person, von der die Auskünfte verlangt werden, der verwaltungsrechtliche oder der strafrechtliche Rechtsweg gegen das Auskunftsverlangen offen steht.↩
Siehe Endnote 3.↩
Es ist unklar, ob diese Bestimmung dem Mitgliedstaat, der die Informationen übermittelt, das Recht gibt, dem anderen Mitgliedstaat auch die Verwendung der Auskünfte in Strafverfahren, die erst nach der Übermittlung eingeleitet worden sind, zu untersagen. Ermöglicht der neue Artikel 12 Buchstabe b) VO (EG) Nr. 515/97, die Anwendung des Artikel 45 Absatz 3 einzuschränken, der eine Verwendung der Auskünfte in diesen Fällen ausdrücklich vorsieht?↩